Als die Gefährten des Odysseus von den Lotophagen bewirtet werden, vergessen sie alles und denken nicht daran, in ihre Heimat zurückzukehren. Mit Gewalt müssen sie aufs Schiff gebracht werden, um die Heimreise fortzusetzen.
Dieser Mythos markiert den Beginn einer Geschichte des Vergessens, die die Geschichte der menschlichen Kultur als ihre andere Seite begleitet und heute mit der schwindenden Nachhaltigkeit digitaler Systeme und ihrer scheinbar unermeßlichen Speicherkapazität einen neuen Höhepunkt erreicht.
Bereits Goethe rief dazu auf, der Destruktion des Gedächtnisses entgegenzuwirken, und im 19. Jahrhundert versuchte die Romantik, durch die Hinwendung zum Mittelalter das kulturelle Gedächtnis zurückzugewinnen, während die an der Zukunft orientierten Ideologien die Weltgesellschaft lediglich ökonomisch optimieren wollten - ein Konzept, das seine Geltung grundsätzlich bis zur globalen Wirtschaftsgesellschaft des 21. Jahrhunderts behalten hat und das in der Hirnforschung, in der Gerontologie und in der Gentechnik ganz neue Dimensionen gewinnt.
Manfred Osten beschreibt in seinem Essay erstmals die Geschichte des Vergessens als Teil der Kulturgeschichte, von den Anfängen bis zur Gegenwart, bis zur Problematik heutiger digitaler Speichersysteme, die das menschliche Gedächtnis entlasten sollen, zugleich aber auch immer fragiler werden und damit den fortschreitenden Verlust des kulturellen Gedächtnisses geradezu 'programmieren'.