Die Literatur zu den kanonischen Bildungsromanen von Goethe, Keller und Thomas Mann ist kaum mehr überschaubar. Sie hat diese Romane jedoch nicht etwa verständlich, sondern vielmehr unlesbar gemacht. Sie hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die irritierenden Einsichten aus Wilhelm Meisters Lehrjahren, aus dem Grünen Heinrich und aus dem Zauberberg systematisch verdrängt, anstatt sie mit tiefsitzenden Vorurteilsstrukturen zu konfrontieren. Deshalb unternimmt Hörischs Arbeit den Versuch, die vermeintlich vertrautesten Bildungsromane gegen den Strich ihrer etablierten Deutung zu lesen. Methoden, die von der Literaturwissenschaft immer noch eher skeptisch betrachtet werden (wie Psychoanalyse, Semiologie, Kritische Theorie und Ethnologie), haben diesen Versuch ermutigt. Sein Ergebnis: die Bildungsromane werden einen fremden und befremdeten Blick auf die eigene Kultur und die bürgerlichen Sozialisationsweisen, von denen sie berichten. Und sie erzählen davon, wie der Prozeß der Zivilisation, dem die Romanprotagonisten paradigmatisch unterworfen sind, zunehmend Möglichkeiten glücklicher und glückender Selbsterfahrung vertreibt. Dennoch bebildern die Bildungsromane keine traurige Wissenschaft. Denn sie berichten auch von den Listen und Nebenwegen, die angesichts von Ordnungen, an denen die Wünsche der Helden »sich die Hörner ablaufen«, das Glück ermöglichen, »ohne Schrecken seiner selbst inne zu werden«.