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Helmuth Plessner (1892-1985), der große Sozialphilosoph in der vergangenen Jahrhundertmitte, der in seiner schöpferischen Alterswirksamkeit einer der prägenden Geister der Bundesrepublik Deutschland war, verdient eine interkulturelle Lektüre, und zwar in dreierlei Hinsichten:1. als Prototyp eines denkenden Menschen im "Kulturschock":Als Repräsentant einer Gesellschaft, die, aus kindlicher Unschuld gerissen, von sich selbst entfernt und von fremden (siegreichen) Gesellschaften überwunden wird, setzt sich Plessner, der vermeintliche Weltbürger und "Amerikaner", beim offensichtlich kleinen Übergang von Deutschland nach Holland einem Schock der Überraschung und Enttäuschung aus, den er lebenslang verarbeiten und mit einem Sinn erfüllen muss. Indem er sich verständlich macht als Lehrer und Schriftsteller, erfüllt er die Aufgabe, Menschen dazu zu bewegen, die großen kulturellen Distanzen zu fühlen, die sie im Alltag verdrängen, indem sie ohne zureichenden Grund glauben, "dieselben" zu sein, während sie doch in Generationen und Subkulturen gar nicht anders leben können als in einer Konfrontation mit sich selbst als dem "andern als alle andern".2. als lebenslang sich wandelnder und werdender Philosoph, der alle Positionen so überwand und transzendierte, dass er sich in anderer Kultur spiegelte und so zu sich selbst fand.Wie Petrarca als erster Europäer einen hohen Berg bestieg, auf dem ihn der Satz Augustins erschütterte: Die Menschen besteigen die Berge und betrachten die Länder, und haben nicht Acht ihrer selbst; so schöpft Plessner aus den Kulturbegegnungen die Freiheit, immer tiefer und wahrhafter aus dem realen Dasein der Menschen und Gesellschaften Vielfaltsbedingungen und Vielfaltsvoraussetzungen zu isolieren. Diese machen es möglich, als sicher geglaubte Kategorien des Menschlichen in ihrer Eingeschränktheit und Bedürftigkeit zu kritisieren und zu erweitern - woraus die Plessnersche Philosophie eine Leidenschaft der Selbstkorrektur und Selbstabschaffung herauszog.3. als Schöpfer einer neuen philosophischen Wissenschaft, die Interkulturalität zum Wesenskern des Menschen rechnet.Die Anthropologie Plessners ist weit von dem entfernt, was ihre Gegner gern in sie hinein zu lesen verstanden. Sie will alles andere als ein festes, über Geschichte und Biologie erhabenes Menschenwesen postulieren. Vielmehr lehrt sie, in jeder kulturellen Erscheinung eine Möglichkeit unter vielen zu sehen, die überhaupt nur ist, was sie ist, weil sie eine unter vielen ist: Sprache ist gar nicht Sprache, außer sie versteht sich im Verhältnis zu andern als eine Fremdsprache, Kunst ist nichts wert, wenn sie nicht im Verzicht auf überlegene andere Tonalitäten besteht, Sitte hat überhaupt nur einen Sinn, wenn sie sich von anderer Sitte betrachten und in Frage stellen lässt.So ist es dank der Plessnerschen Anthropologie möglich, jenseits des Rassismus und des Sexismus einen fundierenden Ungeist zu erkennen, den man als "Kulturismus" auffassen und überwinden könnte. Nicht aus deklamatorischem Humanismus, sondern aus den Wesensgesetzen von Kultur leitet er eine interkulturelle Natur des Menschen her. Wie der Mensch primär in einer Mitwelt lebt, lange bevor er eine Innen- und eine Außenwelt bilden und in Gegensatz zueinander bringen kann, findet sich auch seine Kultur in einer Mitwelt von Kulturen, und kann sich nur so nach außen zur Geltung bringen und nach innen entfalten.