Die Überlieferung der Sprüche Freidanks zeigt sich vielgestaltig: Freidank-Sprüche werden vom 14. bis ins 17. Jahrhundert überliefert in Spruchsammlungen, Predigten und Rechtstexten, in Familienbüchern und monastischen Handschriften; zusätzlich treten sie als Inschriften verschiedenster Form auf.
Aus diesem großen Bestand an Überlieferungsmaterial lässt sich ein kohärentes Freidankbild abstrahieren, wie es Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses der Zeit gewesen sein muss: Freidank wird als Autorität behandelt, die auf gleicher Ebene wie weitere Referenzfiguren (die Kirchenväter, biblische Figuren, antike Autoren) ihren Platz innerhalb eines anerkannten Legitimationssystems hat. Als feste Bedeutungsbestandteile sind mit dieser Instanz "Freidank" die Qualitäten der Wahrheit und Gottgefälligkeit assoziiert. Umgekehrt wird innerhalb dieses kulturellen Systems die Chiffre "Freidank" als fiktive Urheberinstanz auch benutzt, um eben diese Qualitäten auf neue Inhalte zu übertragen - eine eigene Textgattung von "Freidanken" - lehrhafte Spruchdichtung mit hohem Wahrheitsanspruch - entsteht.
Ähnliche Prozesse der Konstruktion eines Autorprofils im kulturellen Gedächtnis lassen sich vergleichend bei der Rezeption Wolframs von Eschenbach und Neidharts feststellen. Auch hier existieren Autorenbilder, die den Rezipienten der Werke bekannt waren und die spätere Deutung beeinflusst haben.