Mehrsprachigkeit ist kein literarisches Randphänomen: In allen literarischen Epochen, Gattungen und Traditionen gibt es mehrsprachige Texte. Besonders in der Literatur der Moderne gilt Mehrsprachigkeit als ein Kennzeichen hoher Sprachreflexivität. Was aber ist literarische Mehrsprachigkeit? Wie lässt sie sich beschreiben und deuten? Mit welchen kommunikativen und ästhetischen Zielen wird sie eingesetzt? Die Studie untersucht den Sprachwechsel als eine manifeste Form literarischer Mehrsprachigkeit an Elias Canettis "Die Stimmen von Marrakesch" und Ingeborg Bachmanns Erzählung "Simultan". In Canettis Reiseaufzeichnungen werden durch den Sprachwechsel verschiedene Stimmen und wörtliche Zitate erzeugt. Bachmanns "Simultan" erzählt konsequent mehrsprachig und im ständigen Sprachwechsel vom vakanten Ort der Muttersprache und von den Schwierigkeiten des Übersetzens. Literarische Mehrsprachigkeit changiert stets zwischen Übersetzung und Unübersetzbarkeit. Damit wirft sie nicht nur sprachästhetische, sondern auch sprachtheoretische Fragen auf. Als Antwort entwickelt die Studie eine Poetologie der Mehrsprachigkeit. Der anderssprachige Ausdruck wird zum Träger einer spezifischen, jeweils individuellen oder kulturellen Idiomatik, die sich der Übersetzung entzieht.