Das Buch setzt sich am Beispiel der Sommerlieder des späthöfischen Minnesängers Neidhart mit der Überlieferungsproblematik mittelalterlicher Lyrik auseinander. Neidharts Lieder sind nicht als autorisiertes OEuvre überliefert, sondern als untereinander stark abweichende Rezeptionszeugnisse. Die Forschung ist diesem Problem zumeist ausgewichen, indem sie sich auf die stark selegierenden, dem Verdikt der Echtheit geschuldeten Neidhart-Ausgaben des 19. und 20. Jh.s bezogen hat. Diese Untersuchung setzt nicht bei der Überlieferungsvarianz an, sondern bei einer Sondierung übereinstimmender Merkmale und Konstellationen, in denen sich ein rekurrentes poetologisches Muster der Sommerlieder abzeichnet, das letztlich jedem Produktions- und Rezeptionsvorgang vorausgeht. Von dieser Ebene aus wird ein methodischer Ansatz zur Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung entwickelt, der einerseits der genuin mündlichen Vortragsform der Texte und andererseits ihrer Überlieferungsgebundenheit Rechnung zu tragen sucht. Entscheidend neu dabei ist die Zusammenführung von Überlieferungskritik und poetologischer Interpretation als einander ergänzende Methoden der Textphilologie.